Autor: Frank Grotelüschen
Mücken als Motor des Fortschritts
In der Tierwelt finden sich Eigenschaften, die ganz anders sind als das, was wir von uns selbst kennen: Delfine können per Ultraschall navigieren, manche Krebse schlagartig ihre Farbe ändern. Und Ameisen nutzen chemische Duftstoffe, um den Weg zur Futterquelle zu markieren. Schon lange müht sich der Mensch, solche ungewöhnlichen Konzepte nutzbar zu machen: So haben Ingenieure eine von Delfinen abgeschaute Technik entwickelt, mit der Tsunami-Frühwarnsysteme ihre Daten unter Wasser zuverlässig übertragen können. Und die Wabenstruktur von Bienenstöcken dient als Vorbild etwa für ultraleichte Gebäude. Bionik, so nennt sich das Fachgebiet.
Maschine anstatt Biene?
Aktuell sind die Bionik-Fachleute dabei, die Grenzen ihres Forschungsfelds spektakulär zu erweitern. Denn heute lassen sich auch die Software-Branche und sogar die Psychologie vom Tierreich inspirieren: So nutzen KI-Fachleute die Futtersuch-Strategie bestimmter Ameisen als Blaupause für neuartige Algorithmen. Eine Forschungsgruppe an der Universität Bielefeld erforscht, inwieweit sich tierische Verhaltensweisen nutzbringend auf Maschinen übertragen lassen. Und andere streben gar nach dem komplett synthetischen Tier – der künstlichen Biene, die künftig statt des biologischen Originals das Bestäuben von Pflanzen übernehmen soll.
Folge 8 anhören:
Gesprächspartner*innen dieser Folge
- Prof. Bharat Bhushan, Ph.D., Ingenieurwissenschaftler, Ohio State University, Columbus (Ohio)
- Prof. Dr. Ivo Boblan, Robotiker, Beuth-Hochschule für Technik, Berlin
- Dvir Gur, Biologe, Weizmann Institut für Wissenschaften, Rehovot (Israel)
- Dr. Michael Kappl, Biophysiker, Max-Planck-Institut für Polymerforschung, Mainz
- Prof. Melanie E. Moses, Ph.D., Computerwissenschaftlerin und Biologin, University of New Mexiko, Albuquerque
- Ir. Bart Remes, Fakultät für Luft- und Raumfahrttechnik, Technische Universität Delft
- Prof. Dr. Helge Ritter, Neuroinformatiker, Universität Bielefeld
- Prof. Dr. Volkmar Wolters, wissenschaftlicher Beirat des Funkkollegs, Tierökologe, Justus-Liebig-Universität Gießen
- Prof. Robert Wood, Ph.D., Elektroingenieur und Robotiker, Harvard University, Cambridge (Massachusetts/USA)
- Prof. Dr. Longjian Xue, College of Power and Mechanical Engeneering, Wuhan University (China)
Zusatzmaterial
- Stechrüssel als Spritze
- Leonardo da Vinci
- Dädalus und Ikarus
- Bionik im Jahr 2020
- Das Bienensterben
- Weiche Roboter-Systeme
- Das Nagoya-Protokoll
1. Stechrüssel als Spritze
Prof. Bharat Bhushan möchte eine Spritze nach dem Vorbild des Stechmückenrüssels entwerfen, die eine schmerzfreie Injektion ermöglichen soll. Er ist nicht der erste mit diesem Ziel, doch bislang hat es noch keine solche Spritze zur Marktreife gebracht.
Eine andere Idee mit Mücken verfolgen japanische Forscher. Anstatt den Stechrüssel nachzubauen, haben sie eine transgene Mücke gezüchtet, die in ihren Speicheldrüsen einen Impfstoff produziert. Sticht sie einen Menschen, kommt es ebenso wie bei herkömmlichen Impfungen zu einer Immunreaktion. Diese Methode ist jedoch umstritten, wirft sie doch diverse ethische Fragen wie „Ist es vertretbar, Tiere auf eine solche Art zu instrumentalisieren?“ oder „Ist es vertretbar, wenn frei herumfliegende ‚Impf-Mücken‘ ohne Einverständnis oder Dosierungsmöglichkeit Menschen impfen würden?“ auf.
https://www.deutschlandfunk.de/meldungen-liste-forschung-aktuell.1508.de.html?drn:news_id=86794
https://www.focus.de/wissen/natur/wissenschaft-muecken-als-und132fliegende-impfspritzenund147_aid_491044.html
2. Leonardo da Vinci
Leonardo da Vinci (15.04.1452 – 02.05.1519) war ein vielseitig interessierter und begabter Künstler, Erfinder, Techniker und Philosoph. Mit der „Mona Lisa“ schuf er beispielsweise das mutmaßlich bekannteste Gemälde der Welt. Zudem befasste er sich mit der menschlichen Anatomie und schuf den berühmten „vitruvianischen Menschen“. In dieser Zeichnung wird der menschliche Körper (am Beispiel des männlichen Körpers) in Anlehnung an den antiken Architekten Vitruvius mit idealisierten Proportionen dargestellt.
Leonardo fertigte Skizzen von fallschirmähnlichen Geräten, von ungewöhnlich anmutenden Panzern und helikopterähnlichen Flugmaschinen an. Außerdem studierte er den Vogelflug, nach dessen Vorbild er mit Fluggeräten experimentierte.
https://www.planet-wissen.de/technik/erfindungen/erfinder/pwieleonardodavincidasuniversalgenie100.html
https://www.geo.de/magazine/geo-epoche-edition/1069-rtkl-portfolio-leonardo-da-vinci
3. Dädalus und Ikarus
Die Sage von Dädalus und Ikarus stammt aus der antiken Mythologie und wurde vom römischen Dichter Ovid wenige Jahre nach Christi Geburt in der Schrift „Metamorphosen“ niedergeschrieben. In der Erzählung wird der Baumeister Dädalus mit seinem Sohn Ikarus auf die Insel Kreta verbannt. Dort schmiedet Dädalus den Plan, der Insel mit selbst gebauten Flügeln zu entkommen. Mit echten Vogelfedern und Wachs baut er für sich und seinen Sprössling Flügel mit „[…] einer leichten Krümmung, so dass er echte Vögel nachahmt“. Doch sein Sohn fliegt trotz der Warnungen des Vaters zu nahe an die Sonne heran, sodass das Wachs schmilzt und er ins Meer stürzt. Die Sage wird oft als Warnung vor Übermut interpretiert.
https://www.romanum.de/latein/uebersetzungen/ovid/metamorphosen/ikarus.xml
http://www.medienwerkstatt-online.de/lws_wissen/vorlagen/showcard.php?id=2807
4. Bionik im Jahr 2020
Bionik ist die Verbindung von Biologie und Technik: Phänomene der Natur werden dabei zu Vorbildern für die Lösung technischer Herausforderungen. Der Begriff „Bionik“ tauchte erstmals in den 1960ern auf. Der deutsche Biologe Werner Nachtigall (Saarbrücken) und der Ingenieur Ingo Rechenberg (Berlin) gelten als maßgebliche Wegbereiter dieser auf Interdisziplinarität setzenden Forschungsrichtung.
Über die in der Sendung genannten Beispiele für bionische Forschung hinaus gibt es unzählige weitere Praxisanwendungen. Viele von ihnen wurden den Insekten abgeschaut.
Wissenschaftler der Jiaotong-Universität Shanghai entwarfen etwa eine Folie, die den auffallend schillernden Deckflügeln des südostasiatischen Bockkäfers Neocerambyx gigas nachempfunden ist. Entsprechend dem tierischen Vorbild reflektiert die Folie Licht besonders gut. Der damit einhergehender Kühlungseffekt birgt vielfältige Einsatzmöglichkeiten, zum Beispiel bei der Kühlung von Häusern.
Bioniker aus der südkoreanischen Hauptstadt Seoul beobachteten den Japanischen Nashornkäfer (Allomyrina dichotoma) beim Flug. Sie entdeckten, dass seine Flügel bei einem Zusammenstoß nachgeben und sich kurz zusammenfalten, bevor der Käfer wieder zum normalen Flug übergeht. So vermeiden die Tiere Kollisionsschäden. Nach diesem Vorbild designten die Forscher eine Roboterfliege. Sie soll durch feine Drähte und Faltkanten sowie ein dem Käfer ähnliches Falten der Flügel robuster sein und einen stabileren Flug haben als andere Roboterfliegen.
https://www.wissenschaft-aktuell.de/artikel/Stossdaempfer_fuer_Roboterfliegen1771015590862.html
Materialforscher der Universität Pittsburgh entwickelten eine selbstreinigende und doch durchsichtige Glasoberfläche, die zudem weniger schnell beschlägt als herkömmliches Glas. Als Inspiration diente ihnen Schmetterlingsflügel, genauer die des lateinamerikanischen Glasflügelfalters (Greta oto).
https://www.wissenschaft-aktuell.de/artikel/Glas_nach_Schmetterlingsart1771015590726.html
5. Das Bienensterben
Noch nicht abschließend geklärt sind die Ursachen für das weltweit beobachtete Absterben von Stöcken der Westlichen Honigbiene (Apis mellifera), das im Englischen auch als „Colony Collapse Disorder“ bezeichnet wird. Es gibt jedoch einige Faktoren, auf die sich führende Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler bei der Erforschung dieses Phänomens konzentrieren. Dazu gehören der Befall der Bienenstaaten durch die Varroa-Milbe, neu aufkommende Krankheiten, die Wirkung von Pestiziden, der Einfluss von Stress sowie die Störung der Immunabwehr der Bienen.
https://www.epa.gov/pollinator-protection/colony-collapse-disorder
https://www.planet-wissen.de/natur/insekten_und_spinnentiere/bienen/pwiebienensterben100.html
Aktuelle Maßnahmen gegen die Varroa-Milbe sowie ein neues experimentelles Behandlungskonzept beleuchtet der Bayerische Rundfunk in Sendungen der Fernsehmagazine „Gut zu wissen“ und „Unser Land“.
6. Weiche Roboter-Systeme
Verschiedene Forschungsprojekte bemühen sich, abseits der sich starr bewegenden Roboter weich (re-)agierende Roboter zu etablieren. Dazu inspiriert wurde beispielsweise die italienische Robotik-Forscherin Cecilia Laschi durch einen Tintenfisch: Roboter mit einer Flexibilität, wie sie Tintenfischarme aufweisen, könnten ganz andere Verwendungsbereiche finden als herkömmliche Robotersysteme.
Zudem wäre ein solcher Roboter einem Menschen noch ein Stückchen ähnlicher. Die Menschenähnlichkeit sowie der in diesem Zusammenhang auftretende Uncanny-Valley-Effekt werden im Zusatzmaterial zu Folge 1 behandelt.
https://www.spektrum.de/news/weiche-roboter-nach-dem-vorbild-wirberlloser-tiere/1406588
7. Das Nagoya-Protokoll
Das sogenannte Nagoya-Protokoll aus dem Jahre 2010 („Protokoll von Nagoya über den Zugang zu genetischen Ressourcen und die ausgewogene und gerechte Aufteilung der sich aus ihrer Nutzung ergebenden Vorteile“) ist ein völkerrechtlich bindender Vertrag, der im Zusammenhang mit dem internationalen Übereinkommen zur Biologischen Vielfalt geschlossen wurde. Er soll die Teilhabe der Länder, aus denen für chemische und technische Entwicklungen genutzte Organismen stammen, an den daraus gewonnenen Profiten sicherstellen. Deutschland gehört seit 2016 zu den Vertragsparteien. Innerhalb der Bundesregierung liegt die Federführung beim Bundesumweltministerium. Ein von vielen beklagtes Problem ist die potenzielle Behinderung der Forschung, weil in dem Vertrag nicht klar zwischen kommerzieller und wissenschaftlicher Nutzung unterschieden wird.
https://www.bmu.de/themen/natur-biologische-vielfalt-arten/naturschutz-biologische-vielfalt/biologische-vielfalt-international/nagoya-protokoll/
https://www.bfn.de/fileadmin/ABS/documents/Deutschsprachige Fassung Nagoya-Protokoll.pdf
Interessierte Hörerinnen und Hörer finden auf dieser Seite weiterführende Informationen zu den einzelnen Sendungsthemen als Zusatzmaterial.
Die taxonomische Einordnung von Tieren in diesem Zusatzmaterial basiert auf der aktuellen Fassung des Catalogue of Life (COL) mit letztem Zugriff am 09.02.2021.
Die Zusatzmaterialien werden in der Reihenfolge gelistet, in der die Stichworte in der Sendung Erwähnung gefunden haben. Die Materialien wurden zum Zugriffszeitpunkt 09.02.2021 erstellt von:
M.Sc. Biol. Karl Trüller & B.Sc. Biol. Lennart Schulte