01 Vermenschlichung tierischer Helden

Autor: Stephan Hübner

Find‘ Dich selbst im Dschungelbuch

Tiere begleiten uns von klein auf. In der Natur, als Haustiere, im Zoo – oder als Helden in Büchern, Spielen, Film und Werbung. Nicht selten werden sie dabei vermenschlicht. Man nehme nur „Die Biene Maja“ oder Disneys „Dschungelbuch“: Vieles, was uns dort gefangen nimmt, hat mit tierischer Wirklichkeit nichts zu tun. Trotzdem prägt es unseren Umgang mit Biene, Affe oder Bär, und für Trickfilmzeichner*innen, Autor*innen oder Marketingexpert*innen kann es Teil des Berufs werden, solche Wunschbilder zu formen.

Warum sehen wir so gern im Tier den Menschen?

Wo nahm diese Faszination ihren Anfang? Wie prägt sie sich heute aus? Werden Tiere für uns wertvoller, wenn ihre Eigenschaften sie in unsere Nähe rücken? Was macht dem Tier Mensch, dem Primaten, andere Tiere sympathisch oder unsympathisch?

Diesen Fragen geht die Auftaktfolge des hr-iNFO-Funkkollegs „Mensch und Tier“ nach. Sie fragt aber auch, ob das von Wissenschaftler*innen oft abschätzig beurteilte Vermenschlichen nicht auch nützlich sein kann. Für die Pädagogik etwa. Oder die Forschung: Wir wissen inzwischen, dass Bienen rechnen können, Fische Werkzeuge benutzen und sich Katzen ähnlich an ihre Halter binden wie Kleinkinder an ihre Eltern. Speziell die Anhänger*innen der „New Ethology“, einer Sparte der Verhaltensbiologie, sagen: Reflektiert betrachtet helfen uns solche Parallelen, Tiere besser zu verstehen. Und manchmal auch uns selbst.

Folge 1 anhören:

Sendung in hr-iNFO: 05.12.2020, 11:30 Uhr

Gesprächspartner*innen dieser Folge

  • Prof. Dr. Roland Borgards, Literaturwissenschaftler (Schwerpunkt: Cultural Animal Studies), Goethe-Universität Frankfurt am Main
  • Dr. Karsten Brensing, Sachbuchautor, Verhaltens- und Meeresbiologe, Erfurt
  • Prof. Dr. Vinzenz Hediger, Filmwissenschaftler (Schwerpunkt: Tierfilme), Goethe-Universität Frankfurt am Main
  • Patrick Trapp, 1. Vorsitzender des Furry-Vereins Freunde auf 2 Pfoten e. V., Oberelsbach/Rhön
  • Prof. Dr. Volkmar Wolters, Tierökologe, Justus-Liebig-Universität Gießen, Wissenschaftlicher Beirat des Funkkollegs
  • Martina Weiser, Leiterin der Abteilung Bildung und Vermittlung, Zoo Frankfurt

Zusatzmaterial

  1. Anthropomorphismus
  2. Erfüllung sozialer Bedürfnisse durch Vermenschlichung
  3. Der „Uncanny-Valley“-Effekt
  4. Vermenschlichung als Tierschutzstrategie
  5. International Anthropomorphic Research Project
  6. Kindchenschema
  7. „Menschliche“ Fähigkeiten von Tieren
  8. Jane GOODALL
  9. Buchtipps

1. Anthropomorphismus

Hinter dem Begriff verbirgt sich die Übertragung von menschlichen Verhaltensweisen oder Eigenschaften auf die belebte oder unbelebte Umwelt, darunter auch auf Tiere.


https://www.spektrum.de/lexikon/biologie/anthropomorphismus/3979


Nach dem Schweizer Entwicklungspsychologen Jean PIAGET tritt bei Kindern im Alter zwischen etwa 2 und 7 Jahren die Denkweise auf, Tiere, Pflanzen und Gegenstände hätten ihnen ähnliche Denkweisen und Eigenschaften. Er charakterisiert Kinder in dieser Lebensphase als egozentrisch. Sie nehmen daher an, dass alles um sie herum belebt und wie sie selbst sei.
Auch in späteren Lebensphasen geht dieses anthropomorphistische Weltbild offenbar nicht gänzlich verloren. Das Auftreten dieser Denkweise nimmt zwar ab, bleibt aber wahrscheinlich auch bei erwachsenen Menschen grundsätzlich erhalten.

  • PIAGET, Jean (2003): Meine Theorie der geistigen Entwicklung. Herausgegeben von Reinhard FATKE. Psychologie Band 142. Weinheim: Julius Beltz. ISBN 3-407-22142-8

https://www.ew.uni-hamburg.de/ueber-die-akultaet/personen/gebhard/files/naturbeseelung.pdf

↑ nach oben

2. Erfüllung sozialer Bedürfnisse durch Vermenschlichung

Vermenschlichung wird mit unerfüllten sozialen Bedürfnissen in Zusammenhang gebracht. Daher kann Vermenschlichung auch dazu führen, dass Menschen sich durch sie besser fühlen. Das belegen drei Studien aus 2016.
Probandinnen sollten sich zunächst Situationen vor Augen führen, in denen sie in der Vergangenheit soziale Ablehnung erfahren hatten. Die Teilnehmerinnen, die sich im Anschluss Bilder von Tieren oder Gegenständen ansahen und diesen Namen gaben, berichteten über weniger negative Empfindungen und ein schwächeres Gefühl sozialer Zurückweisung als die Gruppe, die ihnen keine Namen gab.
Neben Tieren werden auch Gegenstände wie Roboter Objekte unseres Hangs zur Vermenschlichung. Bereits Teilnehmer*innen einer Studie von 1944 neigten dazu, Bewegungen von geometrischen Figuren in einem Film anschließend auf einer vermenschlichenden (sozialen) Ebene zu beschreiben. So „ignorierte“ das Dreieck den Kreis oder verhielt sich „aggressiv“ dem Quadrat gegenüber.


https://psylex.de/psychologie-lexikon/sozialpsychologie/anthropomorphismus.html
https://www.zukunftsinstitut.de/artikel/die-anthropomorphismus-falle/

↑ nach oben

3. Der „Uncanny-Valley“-Effekt

Vermenschlichung löst in uns nicht immer Vertrautheit aus. Das zeigte ein Experiment von Masahiro MORI. Er nennt das den „Uncanny-Valley“-Effekt – den „Unheimliches-Tal“-Effekt.

Quelle: https://www.zukunftsinstitut.de/artikel/die-anthropomorphismus-falle/

Dieser Effekt beschreibt, dass die Vertrautheit von Gegenständen mit ihrer Menschenähnlichkeit nur bis zu einem gewissen Punkt steigt. Dann folgt ein „Tal“, in dem uns Vermenschlichungen eher unheimlich als vertraut erscheinen. Es entsteht noch keine vollständige Illusion. Eine Handprothese beispielsweise sieht wie eine Hand aus, fühlt sich jedoch kalt und unmenschlich an. Dieses „Tal“ wird erst bei täuschender Menschenähnlichkeit durchschritten.


Uncanny Valley: Warum wir allzu menschenähnliche Maschinen ablehnen. (in-mind.org)

↑ nach oben

4. Vermenschlichung als Tierschutzstrategie

Die Vermenschlichung von Tieren wird auch im Sinne des Tier- und Naturschutzes eingesetzt. Sie erleichtert uns das Mitfühlen und das Erleben von Verbundenheit, wodurch wir uns auch stärker für Tiere und Natur einsetzen.
Es werden nicht nur menschliche Probleme auf gezeichnete Tiere übertragen, sondern auch umgekehrt. Tier- und Naturschutzprobleme werden den Menschen auf diese Weise aufgezeigt. Auch mit Hilfe von Maskottchen, wie dem „Fuleco“ der Fußballweltmeisterschaft 2014, soll der Tierschutz von Vermenschlichung profitieren. „Fuleco“ sollte das gefährdete Dreibinden-Kugelgürteltier (Tolypeutes tricinctus) darstellen und so zu seinem Schutz beitragen.
Doch wenn Menschen sich durch Empathie besonders gut dazu bewegen lassen, Engagement im Tierschutz zu zeigen, was passiert dann mit den unschönen oder nicht niedlichen Tieren?

Hiermit hat sich „Terra X“ in einem Beitrag beschäftigt:


Aber selbst medial sehr präsente und populäre Tiere erleben nicht nur Schutz. Da sie wegen ihrer Bekanntheit auch begehrt sind, sind sie Gefahren wie illegalem Tierhandel ausgesetzt. Dieses Thema wird in Funkkolleg-Folge 16 eine Rolle spielen.


https://www.dw.com/de/hilft-es-tiere-zu-vermenschlichen-um-arten-zu-retten/a-17678420
https://www.washingtonpost.com/news/early-lead/wp/2014/07/07/environmental-conservationists-call-fifa-out-for-misusing-its-fuleco-armadillo-mascot/

↑ nach oben

5. International Anthropomorphic Research Project

Das International Anthropomorphic Research Project (IARP) befasst sich mit dem Phänomen, dass Menschen anthropomorphe Tiercharaktere (sogenannte „Fursona“) erfinden, mit deren Werten und Eigenschaften sie sich besonders identifizieren können.


Das IARP untersucht und veröffentlicht auf seiner Seite Artikel zu allen Aspekten dieses Fandoms (Furry Fandom). Es gibt dort etwa Umfragen zu Religiosität der Mitglieder dieser Gemeinschaft sowie zur Anzahl der bisher von ihnen erschaffenen Fursonas oder zu ihrer Identifikation als Mensch.
Weiterhin listet das IARP eine Reihe von Publikationen, die im Zusammenhang mit dem Furry Fandom stehen.

https://furscience.com/

↑ nach oben

6. Kindchenschema

Das sogenannte Kindchenschema bezeichnet eine Kombination von Körpermerkmalen, die bei Menschenkindern und anderen jungen Tieren auftritt. Das Kindchenschema ist durch einen vergleichsweise großen Kopf mit großen Augen, hoher Stirn und kleinem Nasen- und Kinnbereich sowie kurze Extremitäten charakterisiert.
Bei Erwachsenen steigert dieses Aussehen die Bereitschaft zu Fürsorge und Pflege. Doch das gilt nicht nur für Kleinkinder. Gepaart mit Reifemerkmalen erhöht es bei erwachsenen Männern auch die Attraktivität potenzieller Partner*innen.
In eine Studie wurde gezeigt, dass das Kindchenschema das Belohnungszentrum des Gehirns aktiviert. Diese Hirnregion „vermittelt motiviertes Verhalten, das nach Belohnung strebt, löst Glücksgefühle aus und spielt unter anderem auch bei Drogensucht eine Rolle.“


https://www.uni-muenster.de/news/view.php?cmdid=6962


Daher orientiert man sich auch bei Produktwerbung und bei der Herstellung von Spielzeugen am Kindchenschema. Durch die erzeugten positiven Gefühle sollen die Kaufbereitschaft sowie der Absatz von Produkten erhöht werden.
Die Steigerung der Attraktivität und das Auslösen von Glücksgefühlen sind Gründe dafür, dass man das Kindchenschema bei Figuren in Comics und im Zeichentrick wiederfindet.


https://www.spektrum.de/lexikon/biologie/kindchenschema/36103
https://www.iflebenskunde.de/kindchenschema/
https://www.uni-muenster.de/news/view.php?cmdid=6962

↑ nach oben

7. „Menschliche“ Fähigkeiten von Tieren

In einer 2019 veröffentlichten Studie wurden Honigbienen (Apis mellifera) darauf trainiert, einfache Rechenaufgaben korrekt zu lösen. Dazu wurden in einer Trainingsphase Farben mit Rechenoperationen verknüpft, und die Bienen erhielten eine gewisse Anzahl farbiger Quadrate gezeigt. Flogen die Tiere im Anschluss durch einen sich teilenden Gang, der an einem Ende die korrekte und am anderen die falsche Lösung zeigte, und wählten sie den richtigen Gang, so wurden sie mit Zuckerwasser belohnt.
Beim Versuch selbst wählten die Bienen in 60 bis 70 % der Fälle die korrekte Lösung – was die Forscher zu dem Ergebnis brachte, dass die Bienen Rechenoperationen nach Regeln lernen und auf neue Mengen übertragen können.


https://www.scinexx.de/news/biowissen/bienen-koennen-rechnen/


Verschiedene Gattungen der Lippfische (Labridae) sind imstande, Muscheln an Steinen zu knacken. Das ist insofern erstaunlich, als dass ein gewisses Maß an vorausschauendem Denken benötigt wird, um zunächst eine Muschel auszugraben, mit dieser dann einen geeigneten Stein zu finden und sie schließlich an diesem zu öffnen.


https://www.scinexx.de/news/geowissen/fisch-bei-der-werkzeugnutzung-gefilmt/


Es gibt zahlreiche Beispiele von anderen Tierarten und -gruppen.

↑ nach oben

8. Jane GOODALL

Jane GOODALL (*1934) ist eine bedeutende Verhaltensforscherin im Bereich der Primatenkunde. Sie beschäftigte sich in ihrer wissenschaftlichen Feldforschung vor allem mit Schimpansen. Ihr Projekt im Gombe-Nationalpark war revolutionär für die Langzeitbeobachtung von Säugetieren mit Fokus auf dem Sozialverhalten in freier Wildbahn. Bis heute setzt sich Jane GOODALL weltweit für Schimpansen, eine harmonische Beziehung zwischen Mensch und Tier sowie für den Naturschutz ein.


https://www.nationalgeographic.de/tiere/jane-goodall-der-gute-geist-von-gombe

↑ nach oben

9. Buchtipps

• BRENSING, Karsten (2018): Alfred Brehm und die Gefühle der Tiere. In Brehms Tierleben. Die Gefühle der Tiere. Berlin: Dudenverlag. S. 6-39.
• BRENSING, Karsten (2018): Die Sprache der Tiere. Wie wir einander besser verstehen. Berlin: Aufbau Verlag.
• SACHSER, Norbert (2018): Der Mensch im Tier. Warum Tiere uns im Denken, Fühlen und Verhalten oft so ähnlich sind. Reinbek: Rowohlt.
• SCHILDGER, Bernd (2019): Mensch, Tier! Thun, Gwatt: Wird & Weber Verlag.

↑ nach oben

Interessierte Hörerinnen und Hörer finden auf dieser Seite weiterführende Informationen zu den einzelnen Sendungsthemen als Zusatzmaterial.

Die Zusatzmaterialien werden in der Reihenfolge gelistet, in der die Stichworte in der Sendung Erwähnung gefunden haben. Die Materialien wurden zum Zugriffszeitpunkt 27.11.2020 erstellt von:
M.Sc. Biol. Karl Trüller