Autorin: Renate Müller
Raus aus dem Wald!
Je stärker der Mensch in den ländlichen Raum eingreift, desto mehr lockt es verschiedene Tiere in die Stadt. Und so tauchen dort plötzlich Arten wie Wildschweine, Biber oder Wanderfalken auf, die eigentlich nicht in die Stadt gehören, sie am Ende aber zum überraschend vielfältigen Ersatzlebensraum werden lassen. Denn Städte bieten Schutz vor Feinden, manche Arten könnten ohne das warme städtische Mikroklima nicht bei uns leben, andere erschließen sich neue Lebensdimensionen.
Wo bleibt das Tier im Zeitalter der Menschen?
In der „Stadtflucht der Landtiere“ offenbaren sich beispielhaft und facettenreich die ökologischen Auswirkungen des Menschenzeitalters oder Anthropozän. Bereits im Jahr 2000 begann die Diskussion darüber, ob die Zeit in der wir leben, diesen Namen erhalten soll. Eine Zeit, gekennzeichnet durch die beispiellose menschliche Beeinflussung von Naturräumen. Eine Zeit, in der Menschen andere Lebewesen gefährden, indem sie ihnen direkt oder indirekt ihren Lebensstil „überstülpen“. Eine Zeit, in der sich tierische Lebensgewohnheiten massiv verändern, durch Lärm, zerteilte Landschaften, Freizeitaktivitäten oder Klimawandel. Für 2021 wird die finale Entscheidung über den neuen Namen erwartet.
Muss diese Entwicklung akzeptiert oder (politisch) verhindert werden? Welche Eigenschaften muss eine Tierart haben, damit sie den Lebensraum Stadt erfolgreich besiedeln kann? Bekommt das Leben in der Stadt jedem Tier gut? Wie sieht eine tierfreundliche Stadt aus? Und verändert das Anthropozän nicht auch die Tierforschung? Schließlich sollte die ja immer auch die Umwelt des Tieres „mitdenken“ – inklusive des Menschen und seiner Aktivitäten.
Folge 14 anhören:
Gesprächspartner*innen dieser Folge
- Prof. Dr. Reinhold Leinfelder, Geobiologe und Anthropozän-Forscher, Freie Universität Berlin
- Dipl.-Forstwirtin Geva Peerenboom, Abteilung Wildtier-Ökologie und -Management, Albert-Ludwigs-Universität Freiburg
- Prof. em. Dr. Josef H. Reichholf, Evolutionsbiologie, ehemaliger Leiter der Hauptabteilung Wirbeltiere der Zoologischen Staatssammlung München und Professor für Ökologie und Naturschutz, Technische Universität München
- Prof. Dr. Wolfgang Weisser, Leiter des Lehrstuhls für terrestrische Ökologie, TUM School of Life Sciences, Technische Universität München
- Prof. Dr. Volkmar Wolters, Tierökologe, Justus-Liebig-Universität Gießen, Wissenschaftlicher Beirat des Funkkollegs
Zusatzmaterial
- Lebensraum Aue
- Die Gefährdung von Halsbandschnäppern, Eisvögeln und Gelbbauchunken
- Animal-Aided Design
- Wildtiere im Stadtbild
- Monokulturen
- Stadtimkerei
1. Lebensraum Aue
„Bändigen und Formen“, mit diesem Motto könnte man das Wirken des Menschen seit Jahrtausenden auf die Natur in seiner Umgebung beschreiben. Wälder werden „aufgeräumt“ und forstwirtschaftlich genutzt oder in Agrarflächen umgewandelt, Flüsse werden begradigt und ausgebaggert, deren Uferbereiche entsprechend des Katastrophenschutzes sowie einer touristischen und wirtschaftlichen Nutzung umgestaltet. Weite Landstriche unterliegen einer ständigen Nutzung und Beeinflussung durch den Menschen.
Als „Aue“ bezeichnet man Gebiete, die meist an Rändern von Flüssen und Bächen liegen und von dem nahen Gewässer regelmäßig überflutet werden. Durch den ständigen Wechsel von Flutung und Trockenfallen entsteht ein einzigartiger Lebensraum. In Mitteleuropa entwickelt sich in diesen Uferbereichen unter natürlichen Bedingungen eine charakteristische Auwald- und Sumpfvegetation. Auen beherbergen eine Vielzahl von speziell angepassten Tier- und Pflanzenarten. Ihre Überflutungsflächen schützen die umliegenden Landschaften vor Hochwasserereignissen und verbessern die Wasserqualität, weil die Vegetation Nährstoffe aus dem Wasser filtert.
Vielfältige Eingriffe des Menschen in die Gewässerstruktur (zum Beispiel durch Flussbegradigungen) oder in die flussnahen Bereiche (zum Beispiel für die Landwirtschaft oder für Siedlungsgebiete) haben die meisten natürlichen Auengebiete verschwinden lassen. Die Folgen sind unter anderem ein großer Artenverlust und ein geringerer Hochwasserschutz.
https://www.spektrum.de/lexikon/geowissenschaften/aue/1098
https://www.wwa-ho.bayern.de/wasser_erleben/zu_fuss_per_rad/lehrpfad_eger/pic/oekologische_bedeutung_aue.pdf
In einem Beitrag des Bayerischen Rundfunks werden die Vorteile einer geschützten Auenlandschaft hervorgehoben.
2. Die Gefährdung von Halsbandschnäppern, Eisvögeln und Gelbbauchunken
Arten mit spezifischen Ansprüchen wie der Halsbandschnäpper (Ficedula albicollis), der Eisvogel (Alcedo atthis), oder die Gelbbauchunke (Bombina variegata) sind durch die menschlichen Eingriffe in die Natur besonders gefährdet.
Halsbandschnäpper werden in der Roten Liste gefährdeter Tiere, Pflanzen und Pilze Deutschlands (in der Quelle unter „Vögel 2015“ zu finden ) als „gefährdet“ (Kategorie 3, siehe Abbildung 1) eingestuft. Sie benötigen Höhlen in totem Laubholz als Brutstätte. Geeignetes Totholz wird jedoch durch die Forstwirtschaft meist entfernt. Zudem verhindert das Anlegen großer Nadelbaumbestände das Entstehen neuer potenzieller Brutstätten.
Eisvögel stehen zwar nicht auf der oben genannten Roten Liste, werden aber dennoch in Artikel 4 der Europäischen Vogelschutzrichtlinie als besonders schützenswert eingestuft. Denn sie sind typische Vögel eines durch menschliche Kultivierung bedrohten Lebensraums: Der naturnahen Abschnitte langsam fließender und stehender Gewässer. Dort legen Eisvögel ihre Brutröhren in lehmigen Steilhängen an und benötigen Fischgewässer mit einem reichen Nahrungsangebot. Verschmutzungen reduzieren den Bestand an Kleinfischen, die Umgestaltungen der Ufer verhindern die Anlage von Brutröhren und eliminieren Sitzwarten, menschlicher Lärm stört die scheuen Vögel bei der Jagd und der Fütterung ihrer Nachkommen.
Die Gelbbauchunke wird in der Roten Liste gefährdeter Tiere, Pflanzen und Pilze Deutschlands (in der Quelle unter „Amphibien 2009“ zu finden) als „stark gefährdet“ (Kategorie 2) aufgeführt. Auch der Lebensraum dieser ursprünglich die unregelmäßig überfluteten Auenlandschaften besiedelnden Art wird durch vielfältige wirtschaftliche Eingriffe des Menschen gefährdet. Sonnige Flachwasserbereiche und vergängliche Kleingewässer, die als Kinderstube für diese Froschlurche dienen, werden immer seltener, sind häufig verschmutzt und mit Schadstoffen belastet. Zudem müssen sich die Laichgewässer in der Nähe von Unterschlupfmöglichkeiten für erwachsene Tiere befinden, wie Felsspalten, Steine oder Totholz.
https://www.lbv.de/ratgeber/naturwissen/artenportraits/detail/halsbandschnaepper/
https://www.lbv.de/ratgeber/naturwissen/artenportraits/detail/eisvogel/
https://natura2000.rlp-umwelt.de/steckbriefe/index.php?a=s&b=a&c=ffh&pk=1193
3. Animal-Aided Design
Das Projekt “Animal-Aided Design” unter der Leitung von Dr.-Ing. Thomas E. Hauck und Prof. Dr. Wolfgang W. Weisser will tierfreundliche Planungen und Durchführungen von Bauvorhaben ermöglichen. Ziel ist es, bei der Stadt- und Bauplanung von Anfang an die Bedürfnisse von Tieren zu berücksichtigen. So setzt sich das Projekt dafür ein, bereits vorhandene Tierbestände bei baulichen Maßnahmen und während des Bauprozesses zu schützen. Außerdem spielt die Einschätzung von Standorten als möglicher Lebensraum weiterer Tierarten und das anschließende Unterstützen ihrer Ansiedlung im Zuge des Bauvorhabens eine große Rolle. Die Maßnahmen werden im Anschluss im Hinblick auf verschiedene Kriterien wie der Kosten, der Annahme durch die Zielarten sowie einer Einschätzung durch die Anwohner, unter anderem hinsichtlich des Pflegeaufwands, bewertet.
4. Wildtiere im Stadtbild
Weltweit zieht es unterschiedlichste Tiergruppen immer häufiger in den vom Menschen erschaffenen und geprägten Lebensraum Stadt. Häufig handelt es sich um sogenannte Generalisten – also Organismen, deren Lebens- und Fortpflanzungsbedingungen wenig spezifisch sind. Die Stadt bietet den Tiergruppen, die sich dort einfügen können, unterschiedliche Vorteile. Beispielsweise ist die Durchschnittstemperatur höher als auf dem umgebenden Land, was die Überwinterung erleichtert. Außerdem ist das Nahrungsangebot in Städten größer und vielfältiger, allerdings unterscheidet es sich oft von den natürlichen Nahrungsquellen der Tiere. Als weiterer Vorteil für Tiere finden sich in Gebäuden, Parkanlagen oder in der Kanalisation geeignete Plätze als Unterschlupf und für die Aufzucht von Nachkommen. Manche Arten haben sich mittlerweile an die neuen Bedingungen des Stadtlebens angepasst. Singvögel beispielsweise kommunizieren lauter, um den Stadtlärm zu übertönen.
Aber nicht nur Wirbeltiere wie Säuger, Vögel und Reptilien zieht es in die Stadt. Auch in urbanen Lebensräumen bilden Insekten und Spinnentiere mit Abstand die größte Gruppe der „Zuwanderer“. Als Abfallverwerter oder Schädlingsbekämpfer erbringen sie oft wichtige Dienstleistungen, werden aber häufig auch als unliebsam wahrgenommen. Einige Arten übertragen zudem Krankheiten.
Grundsätzlich muss man festhalten, dass das Risiko der Krankheitsübertragung durch die zunehmende Nähe zwischen Menschen und Wildtieren deutlich steigt.
Das Format „Clixoom Science & Future” befasst sich mit der globalen Zuwanderung von Wildtieren in die Städte sowie mit dem Projekt „Animal-Aided Design“.
5. Monokulturen
Monokulturen sind – meist größere – Flächen, auf denen jahrelang immer nur eine einzige Nutzpflanzenart angebaut wird. Vorteile entstehen unter anderem durch eine leichtere maschinelle Bewirtschaftung und Pflege der Anbauflächen, wie sie vor allem seit der Industrialisierung der Landwirtschaft praktiziert wird. Zudem hoffte man, den Welthunger durch diese Form des Ackerbaus besser bekämpfen zu können.
Monokulturen bergen jedoch erhebliche Nachteile und Risiken. So erzwingt die ungehinderte Ausbreitung von Schädlingen den verstärkten Einsatz von Pestiziden, was neben der Umweltschädigung auch die Gefahr vergrößert, dass die Schadorganismen Resistenzen gegen die Wirkstoffe entwickeln. Weitere Probleme sind die Förderung der Bodenerosion, also das Abtragen der Ackerkrume durch Wind und Oberflächenwasser, sowie eine Nährstoffverarmung und der damit einhergehende verstärkte Düngebedarf. Aus Sicht des Natur- und Artenschutzes stellen die Vereinheitlichung der Landschaft und die großflächige Zerstückelung der Lebensräume eine besondere Bedrohung dar.
Kaffeeplantagen in Südamerika und Sojafelder in Südostasien sind bekannte Beispiele für Monokulturen, aber auch Mais und Roggen bieten sich für diese Anbauform an. Echte Monokulturen werden in der Agrarlandschaft Deutschlands aufgrund der EU-weiten Cross-Compliance-Regelungen zum Glück immer seltener. Dieser etwas sperrige Begriff bezeichnet Verpflichtungen in den Bereichen Umweltschutz, Gesundheit von Mensch, Tier und Pflanze sowie Tierschutz, die Landwirte einhalten müssen, um Agrarzahlungen der EU zu erhalten.
In Mitteleuropa finden sich Monokulturen oft in der Forstwirtschaft. Seit über 200 Jahren wird zum Beispiel in Deutschland die Fichte (Picea abies) als schnellwachsende Baumart zunehmend forstwirtschaftlich genutzt, obgleich sie auf dem größten Teil der Anbauflächen nicht natürlich vorkommen würde. Diese nicht standortgerechten Bestände reagieren sehr empfindlich auf Umweltveränderungen. Das zeigt sich in dem Fichtensterben der letzten Jahre. Mittlerweile tendiert man sowohl in der Agrar- als auch in der Forstwirtschaft zu verschiedenen Formen der Mischkultur, angepasst an die Anbauregionen und die zu kultivierenden Nutzpflanzen.
https://www.quarks.de/umwelt/landwirtschaft/darum-schaden-uns-monokulturen/
https://www.spektrum.de/magazin/modelle-fuer-die-landwirtschaft-misch-kontra-monokultur/822219
https://www.spektrum.de/lexikon/geographie/erosion/2165
Die gesellschaftlichen und ökologischen Folgen industriell-bewirtschafteter Monokulturen am Beispiel der Soja-Kultivierung in Brasilien werden von einer Doku des ZDF näher beleuchtet.
6. Stadtimkerei
In vielen deutschen Großstädten gibt es einen starken Trend zur Hobbyhaltung der Honigbiene (Apis mellifera). Diese Form der städtischen Imkerei wird auch „urban beekeeping“ genannt. Der Präsident des Deutschen Imkerbundes freut sich laut einem Interview mit n-tv (2014) über diese Entwicklung, warnt jedoch auch vor Problemen. So lassen Neu-Imker in Städten ihre Bienenvölker nicht immer beim Veterinäramt registrieren, zudem sind die Halter nicht immer ausreichend geschult. So könnten sich Krankheitserreger womöglich unerkannt ausbreiten.
Allerdings hat die Stadtimkerei das Potenzial, den Honigimport zu reduzieren, denn noch immer stammt ein großer Teil des in Deutschland verzehrten Honigs aus dem Ausland. Die Nachfrage nach regionalem Honig ist auf jeden Fall vorhanden – und der Honig von Frankfurter Imkern zählt bei der jährlichen Honigprämierung oft zu den besten Hessens.
https://www.n-tv.de/wissen/Imkerbund-warnt-vor-Stadt-Imkern-article13844361.html
https://deutscherimkerbund.de/161-Imkerei_in_Deutschland_Zahlen_Daten_Fakten
https://deutscherimkerbund.de/160-Die_deutsche_Imkerei_auf_einen_Blick
In einer Reportage von „Urban Beekeeping Berlin“ werden verschiedene Aspekte der städtischen Imkerei am Beispiel Berlins betrachtet.
Interessierte Hörerinnen und Hörer finden auf dieser Seite weiterführende Informationen zu den einzelnen Sendungsthemen als Zusatzmaterial.
Die taxonomische Einordnung von Tieren in diesem Zusatzmaterial basiert auf der aktuellen Fassung des Integrated Taxonomic Information System (ITIS) mit letztem Zugriff am 23.03.2021.
Die Zusatzmaterialien werden in der Reihenfolge gelistet, in der die Stichworte in der Sendung Erwähnung gefunden haben. Die Materialien wurden zum Zugriffszeitpunkt 23.03.2021 erstellt von:
M.Sc. Biol. Karl Trüller & B.Sc. Biol. Lennart Schulte